Das Geheimnis hinter der Faszination – Barcelona

Manchmal scheint es so, als würde sich die Welt mehr oder weniger in zwei Gruppen teilen: In jene derer, die schon einmal in Barcelona waren – und solche, die unbedingt einmal hin wollen. Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich kenne niemanden, der schon einmal da war und nicht begeistert ist.
Daraus ergibt sich für mich die Frage, warum das eigentlich so ist. Ja klar, Barcelona liegt im Süden, am Meer und hat ein mediterranes Flair. Alles schon einmal große Pluspunkte. Auf der anderen Seite ist Barcelona damit ja nicht die einzige Stadt in Europa. Also: Was ist an dieser Stadt so besonders?
So komme ich auf die Idee, meine Reise in den Südwesten Europas mit einem Stop in Barcelona zu verbinden, wird mich mein Weg dort irgendwie vorbeiführen. Als ich durch einen Zufall vor meiner Abreise eine kurzfristige Einladung zu einer Veranstaltung in Barcelona bekomme, ist der Entschluss gefasst: Ich ändere meine Route und beginne meine Reise über die iberische Halbinsel mit Barcelona! Las Ramblas, La Boqueria, Gaudí, Hafen von Barcelona – ich komme!
Im Übrigen: Dass diese Stadt etwas Besonderes haben muss, sieht man an auch daran, dass viele und dabei sehr verschiedene Künstler ihr Songs gewidmet haben. Eine kleine Zusammenstellung findet Ihr hier – auch eine gute Begleitung zu diesem Artikel:
In Barcelona angekommen, beziehe ich Quartier in einem Hotel in Gràcia – recht zentral und so ein guter Ausgangspunkt in alle möglichen Richtungen der Stadt. Und das sogar fußläufig!
Es ist ein wunderbarer Oktober-Nachmittag und bis zum Beginn der Veranstaltung (die Einladung, Ihr erinnert Euch) habe ich noch ein paar Stunden Zeit. Ich beschließe, als Erstes das Barcelona zu begrüßen, was ich seit meinem ersten Besuch hier vor 30 Jahren in meinem Herzen trage. Damals habe ich meinen besten Freund Christian hier besucht, der einen Teil seiner Studienzeit in der katalanischen Hauptstadt verbracht hat. Es war in den Neunzigern, also die Zeit vor Mobiltelefonen, von Smartphones ganz zu schweigen. Aber wenigstens gab es schon Emails. Und so erhielt ich von ihm immer wieder Emails, in denen er von dieser Stadt schwärmte. Unter anderem eines Februar-Tages, als er mir schilderte, wie er gerade mit einem Café Cortado auf dem Balkon in der warmen Sonne säße – während ich mit dem grauen, nasskalten Berliner Winter kämpfte. Das war der Moment, indem ich damals beschloss, ihn hier zu besuchen.
Und es ist exakt das, was mich jetzt hier wieder begrüßt: Es ist Mitte Oktober und (aus nordeuropäischer Perspektive) fühlt es sich an wie ein perfekter Spätsommer-Nachmittag!
Also trete ich aus dem Hotel auf die Straße und mache einen ersten Spaziergang herunter ans Meer, wo sich die Segelboote vom Nachmittagswind angetrieben der Küste entlang bewegen. Auf dem Rückweg suche ich mir aus den vielen einladenden Cafés eines heraus, von dem aus ich einen guten Blick auf die vorbeilaufenden Menschen habe. Ich setze mich in die warme Nachmittagssonne, bestelle mir einen Café Cortado und beginne, die Stadt in mich aufzusaugen. Ich beobachte all die Menschen, die Einheimischen und Touristen, jung und alt; diejenigen, die noch arbeiten und diejenigen, die auf dem Weg in den Feierabend sind; diejenigen, die allein ihres Weges gehen und diejenigen, die miteinander ins Gespräch vertieft hier entlang bummeln. Und auch all die verschiedenen Menschen an meinen Nachbartischen, wie sie hinter ihren schwarzen Sonnenbrillen in mal lockere, mal eifrige Gespräche verwickelt sind. Und irgendwie scheint in all den Menschen eine irgendwie besondere Energie zu stecken. Faszinierend, denke ich mir.
Und es ist genau diese Energie, die mir auch an diesem Abend auf der Veranstaltung immer wieder begegnet ... bis ich weit nach Mitternacht auf die Straße trete, immer noch von einem lauwarmen Lüftchen umspült. Müde aber glücklich gehe ich zurück zu meinem Hotel. Was für ein schöner erster Tag.
Am nächsten Morgen mache ich mich mit bester Laune sowie Kamera und Notizbuch auf, die besondere Energie dieser Stadt zu ergründen und einzufangen. Als Erstes geht es wieder in Richtung Meer, über die berühmte Fußgängerpassage Las Ramblas, vorbei am Mercat de la Boqueria (der städtischen Markthalle) sowie all den kleinen, liebevoll gestalteten Geschäften und Cafés.
Nach dem ersten halben Tag macht sich ein wenig Frust in mir breit. Wo auch immer ich die Kamera hinhalte, worauf immer ich sie auch richte, irgendwie entzieht sich die Besonderheit dieser Stadt eines unmittelbaren Blickes. Es ist wie verhext: Es ist eine unglaubliche Stadt, aber wenn es darum geht, diesen Zauber in direkte Bilder zu übersetzen, scheint sie sich zu wehren. Nun gut, die Mengen an Reisegruppen tragen nicht direkt dazu bei, freie Sicht auf die klassische Anmut dieser Stadt zu bekommen, aber das ist es irgendwie nicht allein.
Etwas angestrengt von dieser Herausforderung entscheide ich mich, mir eine Pause zu gönnen und ein vorgezogenes Mittag zu geniessen. Ein gutes Essen hilft ja gern, sich zu sammeln und neue Energie zu schöpfen. Ich arbeite mich durch den vor Menschen fast überquellende Mercat de la Boqueria in den hinteren Teil, in dem es etwas ruhiger zu sein scheint. In einer kleinen Bar lasse ich mich am Tresen nieder und bestelle mir bei Albert, dem Mitinhaber und Sohn der Gründer, ein paar all der so lecker aussehenden Kleinigkeiten: spanisches Omelette mit spanischem Schinken, gegrillte Garnelen mit Knoblauch und Kräutern, gegrillten grünen Spargel ... und ja, ein Glas Weißwein. So schnell hat sich meine Laune selten verbessert.
Und während ich all diese Köstlichkeiten geniesse (die nicht nur so lecker aussehen, sondern es auch sind) komme ich ins Gespräch mit Albert. Über Barcelona, über Katalonien, über Spanien, über Europa, über die Welt. Was das Besondere an Barcelona sein könnte, was Europa von Barcelona lernen könne. Und unter anderem auch, was er sich von bzw. auf so einer Plattform wie dieser hier wünschen würde. Albert überlegt, ob es vielleicht mit der Region Katalonien zusammenhängen könnte, inklusive der eigenen Sprache und der Identifikation damit. Na und klar, all die Bauten von Gaudí, dem Architekt, der Barcelona so geprägt hat. Und zum Abschied fügt er noch hinzu: "Wenn Du das Europa vor dem Internet zeigen würdest, das wär einmal etwas anderes, etwas Besonderes. Weil es die Seele der verschiedenen Regionen zeigen würde, die jeweiligen Wurzeln – jenseits all der irgendwie immer gleichen, recht oberflächlichen Touristenperspektiven."
Wir verabschieden uns und ich trete wieder aus der Boqueria auf die Straße mit all den vielen Menschen, insbesondere all den Touristen (die in Barcelona wirklich zahlreich sind –also wirklich zahlreich!). Und dabei fällt mir auf, dass die absolut überwiegende Mehrheit derer diese Stadt maßgeblich durch den Bildschirm ihrer Smartphones wahrzunehmen scheinen, wahlweise fotografierend oder filmend. Jedenfalls, wenn sie nicht, nach unten schauend, irgendetwas anderes auf ihren Smartphones anschauen während sie die Spaziermeile Las Ramblas hinunterlaufen.
Das bringt mich auf eine Idee: Um etwas anderes sichtbar zu machen, muss man die Perspektive ändern. Und was ist wohl eine andere, vielleicht sogar entgegengesetzte, Perspektive zu dem Blick auf den kleinen Bildschirm eines Smartphone, noch dazu nach unten gerichtet? Vielleicht sollte ich meinen Blick einmal nach oben richten? Und dazu auf mögliche Details? Denen näher kommen? Die Details der Architektur, zum Beispiel all der Fassaden und Dächer? Oder auch die Details wie Typographie, also der Schriftgestaltung, all der Bars, Cafés etc.? Ob sich hierin wohl das Geheimnis Barcelonas zeigen würde?
Und so verbringe ich den Rest des Tages, in eine für mich vollkommen neue Welt einzutauchen. Also aufzusehen: eine unglaubliche architektonische Vielfalt mit einer selten gesehenen spielerischen Kreativität, die man in Barcelona entdecken kann, wenn man seinen Blick gen Himmel richtet: Unterschiedlichste Häuser- und Stilformen, dazu kreative Ornamente an den Fassaden, weit über funktionale Elemente hinaus. Und dies alles über die verschiedenen Stil-Epochen hinweg: von der Gotik über die Renaissance bis zum Jugendstil und dem Modernismus. Letztere die Stilepoche, zu der auch das Schaffen Gaudís gehört.
Bei all dieser Vielfalt sticht ohne Frage auch genau dieser Gaudí mit seinem sehr besonderen Stil heraus. Der Erste unter Gleichgesinnten quasi. Hierbei scheint mir jedoch ein dahinter liegender Aspekt der spannendste: Was sagt es über Bauherren aus, die derartig kreative, ja sehr unorthodoxe Architekten beauftragen? Und zwar nicht ein Bauherr oder zwei. Das mag man noch als Einzelfälle ansehen können. Wohl kaum jedoch, wenn eine ganze Innenstadt über Jahrhunderte in einen Kreativ-Wettbewerb getreten zu sein scheint – angesichts Hunderter solcher sehr individuellen Bauwerke! Und was sagt dies über die Stadt aus, die offenbar nicht nur Dutzende (Hunderte?) solcher Bauherren ihre Bürger nannte und nennt, sondern auch eine Verwaltung besitzt, die dies genehmigt? Und über die Bürger einer Stadt, die dagegen nicht etwa auf die Barrikaden gehen, sondern dies positiv annehmen?
Für mich kann dies nur eines heißen: Hier hat sich eine Stadt über Jahrhunderte in einen Wettbewerb der Offenheit und damit der Kreativität und Vielfalt begeben! Wobei sich dieser hierbei sozusagen selbst gefüttert hat: Aus Offenheit wurde Kreativität und Mut, dies alles hat entsprechende Menschen angezogen, die ihrerseits diese Stadt noch offener, kreativer und mutiger gemacht haben. Und so weiter und so fort. Bis heute. Und dies alles als fortwährende, sich selbst nährende Attraktivität – wie man an dem Touristenboom eindrucksvoll sehen kann!
Genau Gleiches kann man entdecken, achtet man auf die Typographie der Restaurants, Bars, Geschäfte sowie Kultureinrichtungen.
Jetzt ahne ich, dass Typographie ein Thema ist, dem die Wenigsten von Euch bisher größere Beachtung geschenkt haben, schließlich geht es ja bei Schrift um einen Träger von Inhalten. Jedenfalls habe ich sehr lange so gedacht. Bis ich irgendwann auf die Unterschiede von Schriften aufmerksam wurde – und mit ihnen, dass Schriften (wie jedes Design) sehr wohl einen großen Unterschied machen können.
Lasst es mich mit einem Vergleich probieren: Ihr steht vor einem Tisch voller Geschenke. Dabei sind solche, die liegen da in der Plastiktüte, in der sie vermutlich noch kurz vorher gekauft wurden, hastig, schnell-schnell. Und dann jene, die in tollem Papier eingeschlagen und liebevoll mit einer Schleife versehen sind. Welches dieser Geschenke erregt wohl unsere größere Aufmerksamkeit – und unser Wohlwollen? Ganz im Sinne des kleinen Prinzen: "Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig."
Das Gleiche ist es mit Schriften: Zuerst einmal weil sie darüber entscheiden, ob wir unsere Aufmerksamkeit überhaupt auf einen Text richten – oder ihn gar nicht wahrnehmen. Vielfach Gesehenes nehmen wir viel weniger wahr, weil es uns nicht mehr neu erscheint. Im nächsten Schritt aber eben auch, welches Gewicht wir den Worten beimessen, die wir lesen. Eine Schrift, die wir immer und immer wieder sehen, nehmen wir als bekannt wahr (man denke nur einmal an die Standardschriften auf Computern wie Arial oder Times New Roman!). Und in der Tendenz damit auch den Inhalt. Zudem deutet dies – wenn auch unbewusst – darauf hin, ob sich jemand bei einem Text viel Mühe gegeben hat, etwas Schönes, Außergewöhnliches hervorzubringen – und hierbei auch auf die Form geachtet hat.
Ja, dies gilt auch, wenngleich uns viel weniger bewusst, für das Design von Text: der Typographie. Und so ist auch eine typographische Vielfalt in einer Stadt (insbesondere an den Häusern der verschiedenen Epochen) ein Indiz für die Vielfalt und Kreativität und Detailliebe ihrer Einwohner. Und so in der Tendenz auch für deren Offenheit, die eben in genau all den Details zum Ausdruck kommt.
Gott steckt im Detail, sagt man. Selten trifft dies so zu wie in Barcelona.
Ja, was gibt es zu Barcelona noch zu erzählen? Vielleicht und gerade vor dem Hintergrund von Vielfalt und der Bedeutung von Details?
Kehren wir hierfür noch einmal zurück zur Boqueria. Vielleicht ist sie genau deswegen eine solche Touristen-Attraktion, weil sie – wenn auch von den meisten unbemerkt – die sehr konkret geniessbare Übersetzung von Vielfalt und Detailliebe ist. Die Geschichte dieses Marktes reicht angabegemäß bis zum Jahre 1217 zurück. Mehr als 800 Jahre also! Bei einer so langen Existenz kann man mit Fug und Recht sagen, dass der Markt ein relevanter Teil der Geschichte Barcelonas ist – und so auch ein Stück Kultur. Kultur hierbei als "Erscheinungsform menschlichen Daseins", wie es Wikipedia formuliert. Die Boqueria also sowohl als prägendes Element der Stadt als auch als Ergebnis derselben. Als Ausdruck ihrer kulturellen Besonderheit. Und schaut man sich die Produktvielfalt auf dem Markt an, versteht man die Faszination, die diese auslöst – und Menschen aus aller Welt anzieht.
Und so prägt diese Vielfalt auch seine Händler, stehen sie doch täglich im Austausch mit der Welt – was wiederum zu weiterer Offenheit und Inspiration und folgend Vielfalt führt. Im Falle der Boqueria als eine unmittelbare sinnliche Erfahrung in Form der Wohlgerüche in der Nase und den Geschmackserlebnissen auf der Zunge. Als Zutaten zum Kochen, aber auch als fertige Produkte. Als Menü oder als Fingerfood, herzhaft oder süß – jede und jeder findet hier etwas – und kommt gern immer wieder zurück. So wie ich, der ich mehrfach bei Albert zum Essen war – und dies im Übrigen nicht nur, weil sein Essen so toll ist, sondern auch, weil ich mit ihm einen tollen, weltoffenen Europäer kennengelernt habe, der mich sehr inspiriert hat!
Es muss leider einer ausführlicheren Recherche überbleiben, nach den Wurzeln dieser ganzen Offenheit Barcelonas zu forschen. Eine erste Idee habe ich allerdings: Als ich, durch Barcelona schlendernd, darüber nachdachte, habe ich spontan meinen Freund Christian angerufen (Ihr erinnert Euch, der hier vor 30 Jahren studierte und im Februar im T-Shirt draußen Café trank). Ich fragte ihn, ob er eine Idee habe. Wir sinnierten ein wenig – und er wies darauf hin, dass Barcelona schon sehr lange eine Handelsstadt sei. Weltmeer-Zugang und Welthandel inklusive. Und so ihre Bewohner schon lange mit der Welt im Austausch stünden. Eine plausible Erklärung, finde ich, wie eine Stadt sich in eine Aufwärtsspirale von Offenheit, Neuem und Attraktivität begeben hat.
Gern hätte ich das mit ihm noch weiterdiskutiert, leider musste er los, Winterjacken für die Kinder kaufen, es sei kalt geworden in Berlin. Lächelnd halte ich mein Gesicht in die warme Oktober-Nachmittagssonne und nippe an meinem Café Cortado.
Was wir für Europa mitnehmen
Barcelona – Du scheinst das Paradebeispiel zu sein, was passiert, wenn man sich öffnet und in den Austausch mit anderen tritt: Man wird inspiriert, bekommt neue Ideen – und sie werden zu Neuem, das wiederum Menschen anzieht und so die Kreativität und Attraktivität weiter fördert.
Tun wir Europa und uns allen also einen großen Gefallen und wagen mehr Barcelona in unserem Leben – eine größere Attraktivität und ein bereichertes Leben sind der Lohn!