Wenn es Nacht wird in Lissabon: Die Menschen des Fado

Lissabon – kaum ein Ort hat mich so in den Bann gezogen wie die Hauptstadt Portugals mit ihrem, ja, da fängt es schon an: Mir mangelt es schlicht an den passenden Worten. Vermutlich muss man Fernando Pessoa sein, der berühmteste und so außergewöhnliche Dichter Portugals, um diese Stadt passend in Worte zu kleiden. Bin ich aber nicht. Was also nun?
Lissabon hat uns wunderbarerweise mit einer weiteren Kunst beschenkt, die uns alle diese Stadt erleben lassen kann, auch wenn wir nicht dort sind: der Fado. Die so typische Musik insbesondere dieser Stadt. Wobei: eher das in Musik gewandelte Lebensgefühl dieses magischen Ortes am Atlantik.
Also wende ich mich in meinem Hotel an Hugo mit der Bitte um Hilfe. Wo ich denn am besten hinginge, um den richtigen Fado zu erleben. Den Fado mit und bei den Einheimischen. Mit dem ich in die emotionale Tiefe dieser Stadt eintauchen, in ihr versinken, mit ihr verschmelzen kann. Hugo empfiehlt mir das Tasca do Chico in der Alfama, der Altstadt. Ich möge am besten gleich um 19:00 da sein, das Tasca do Chico sei ein traditionelles Fado-Lokal. Was er sagen will: Klein, meist reserviert – und damit schnell ausgebucht. Eine Reservierung habe ich nicht, also mache ich mich so gleich auf den Weg.
Ich bin pünktlich da, allerdings warten schon eine Menge Menschen vor dem Eingang. Es sieht nicht gut aus für mich angesichts des in der Tat sehr kleinen Lokals: ein schmaler Schlauch von vielleicht drei Metern Breite und maximal neun Metern Länge – mit kleinen Tischen und Bänken links und rechts. Doch ich habe Glück. Ich erzähle Elvira, einer wunderbar herzlichen Frau am Eingang, von meiner Liebe zu Lissabon und dem Fado. Und meinem unbedingten Wunsch, den heutigen Abend, die heutige Nacht in der Welt des Fado verbringen zu wollen. Sie nickt warm lächelnd und weist auf einen Platz am Ende des Raumes. Da säßen zwar normalerweise die Sänger, aber ein Platz könne sie entbehren. Ich bin jetzt schon beseelt.
Als Erstes gibts es ein kleines Menü, bestehend aus Caldo Verde, der typischen portugiesischen Kartoffelsuppe, einem Fleischgericht und abschliessend einem der typischen Desserts. Dazu Brot und Wein. Serviert von Elvira und ihrem ebenso wunderbaren Kollegen Adriano, der auch die Bar macht.
Im Übrigen: Wer von Euch noch nie mit Fado in Berührung gekommen ist oder einfach einmal hineinhören möchte: Nachfolgend eine extra für diesen Artikel zusammengestellte Spotify-Playlist:
Auf einmal erlischt das Licht, allein die Kerzen auf den Kerzenständern spenden jetzt noch Licht. Adriano kommt hinter der Bar hervor und begrüßt die Gäste sowie die beiden Gitarristen, die schon am Rande Platz genommen haben. Jedenfalls ist es das, was mein doch sehr limitiertes Portugiesisch versteht. Garantiert sagt er noch mehr, das jedoch liegt jenseits meiner Sprachkenntnisse. Europa besticht ohne Frage durch seine Vielfalt, wozu auch die verschiedenen Sprachen gehören – für die Verständigung ist das leider nicht immer sehr hilfreich. Egal, denke ich mir und lausche einfach der Schönheit der portugiesischen Sprache, die in ihrer Weichheit ein Wohlgenuss ist und, wie ich finde, sehr zu der warmen Art der Menschen hier passt.
Und dann kommt Elvira ebenfalls hinter der Bar hervor – und beginnt zu singen! Und zwar: Oh – mein – Gott! Ihre Stimme hat ein Volumen, einen Charakter, eine Qualität wie ich sie in einer Oper erwarten würde aber nicht unbedingt in einem kleinen Lokal in einer kleinen Straße irgendwo in der Nähe des Hafens! Und dabei singt sie in einer Art, die absolut ergreift. Wobei, ich muss besser schreiben: Sie singt nicht einfach, sie bringt vielmehr den Fado mit ihrem ganzen Körper zum Ausdruck – mit ihrer Stimme, ihrer Mimik, ihren Bewegungen. Ja sogar mit ihren Augen, wenn sie sie geschlossen hat.
Und nun stimmt auch Adriano mit ein, um mit Elvira zusammen in eine – quasi gesungene – Konversation zu treten. Ein zweites Mal innerhalb weniger Minuten bin ich sprachlos: eine Stimme, ein Timbre, eine Inbrunst, mit der er den Fado zum Leben erweckt – auch ihn hätte ich ebenso viel eher in einer Oper erwartet! Anscheinend bin nicht nur ich sprachlos: Es scheinen alle wie gebannt. Allerdings nur bis zum Ende des Liedes – dann bricht begeisterter Applaus los! Gänsehaut!
Nach diesem Auftakt ereignet sich nun, was man als Fremder bzw. als Neuling nicht ahnt: Nacheinander steht abwechselnd die eine und der andere aus der Menge der Anwesenden auf, um bekannte, aber auch eigenen Stücke darzubieten. Von jung bis alt – und alle auf diesem hohen Niveau und der Leidenschaft wie von Elvira und Adriano. Mindestens, denn unter ihnen sind auch absolute Fado-Legenden wie Alice Nunes, Nuno de Aguiar oder auch João Chora, die alle diese Kunst schon seit Jahrzehnte zelebrieren. Beeindruckend sie alle hier wie in einem Wohnzimmer hautnah und 'unplugged' erleben zu können!
Die Stücke der Fado-Musik handeln dabei, ganz einfach, vom Leben: sowohl von der glücklichen, überschwänglichen – als auch von der enttäuschten Liebe. Von den großen Ereignissen des Lebens wie Hochzeiten und der Geburt der Kinder, genauso wie von den kleinen Anekdoten des Lebens – und hier wiederum den lustigen und auch den absurden. Mal mit einem Augenzwinkern, mal mit Tränen in den Augen. Mal vergnügt, mal wütend. Ja, heute Abend steht der Fado auf der Bühne –und er spielt das Stück 'Das Leben'! Wobei Bühne und Zuschauer ineinander verschmelzen. Miteinander, eng beieinander und in der gegenseitigen Anteilnahme vereint!
Ein intensiveres Miteinander als beim Fado ist wohl kaum möglich.
Begleitet werden die Sänger im Übrigen immer durch Gitarristen, häufig durch zwei: einen mit einer "normalen" Akustikgitarre sowie einen mit einer portugiesischen zwölfseitigen Gitarre.
Dabei stehen sie in ihrer Inbrunst und ihrer Versunkenheit den Sängern in nichts nach. Und dies gleich in zweifacher Form: einerseits mit ihren Instrumenten und andererseits den Sängern, denn auch hier geht es um Resonanz, um Verschmelzung. Sie dabei zu beobachten, wie sie abwechselnd tief in ihr Instrument eintauchen – und dann wieder intensiv sich sowohl gegenseitig als auch die Sänger anschauen: Auch dies ist etwas, an dem ich mich kaum satt sehen kann!
Das bringt mich zu der Frage, ob – und wie – dies alles zu erklären ist. Diese sagenhafte Intensität im Miteinander, sowohl bei der Musik als auch bei den Menschen an sich.
Sicher haben einige von Euch schon einmal vom Begriff 'Saudade' gehört. Nahezu überall (inklusive aller prominenten Websites) wird dies nahezu immer mit 'Weltschmerz' übersetzt. Ich habe in meiner Zeit in Lissabon und insbesondere im anschliessenden Austausch mit Adriano gelernt, dass dies dem Gefühl nicht gerecht wird.
Saudade ist nachdem, was ich von ihm verstehe, vielmehr ein tief empfundenes Mitgefühl, eine große Empathie – für die Menschen in der Familie, für die Lieben, die Freunde, aber auch die eigene Stadt. Eine emotionale Resonanz mit dem anderen um einen herum, könnte man formulieren. Und ja, sie speist sich zu einem Teil auch aus dem Schicksal einer Seefahrernation: dem Fernweh einerseits, das in dieser Stadt direkt am Atlantik mit seinem so einzigartigen Licht auf einen einströmt – und dem Heimweh andererseits, wenn man gerade nicht da ist. Aber eben nicht als Weltschmerz, sondern als intensivste Liebe. Und die kann, wie wir alle wissen, auch einmal weh tun. Aber gibt es etwas Schöneres als ein so intensives Liebesgefühl?
Es ist kurz nach 01:00 morgens als ich das Tasca do Chico verlasse, um mich auf den Heimweg zu meinem Hotel zu machen. Es ist ein 20-minütiger Fussweg durch die leeren Gassen der Alfama, die Dunkelheit nur unterbrochen von dem Licht der Laternen – und die Stille der Nacht überschallt durch das Stimmengewirr so vieler Gefühle in mir. Sie füllen mich so stark aus, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen kann, was das gerade eigentlich ist. Es ist so intensiv, dass mir fast die Tränen in den Augen stehen.
Aber vielleicht ist es auch ganz einfach: das ganze Leben und alle Gefühle in einem Moment in mir: Saudade.
Danke Alice, Elvira, Filipa, Adriano, João, Nuno, Afonso, Fiona und allen anderen, die mir dieses Gefühl ermöglicht haben!
Was wir für Europa mitnehmen
Ach Europa, wenn ich Dir ein Rat geben könnte: Lerne Du doch von unseren portugiesischen Freunden und ihrem Fado: mehr Saudade, mehr Empathie und Liebe für die anderen – einen besseren Garant für eine gute Zukunft kannst Du nicht haben!