Die Kraft einer gemeinsamen Identität: Ein Vorschlag

Text

Marcus Mex

Veröffentlicht

11.8.2024

Aktualisiert

10.3.2025

Das Bedürfnis der Orientierung

Eines der menschlichsten Bedürfnisse ist das nach Orientierung. Sehr gern wissen wir, wo wir sind, und wo es hin geht. Bzw. präziser formuliert: Wir haben eine Abneigung gegen fehlende Orientierung: Nicht zu wissen, wo und wohin, erzeugt eine Unsicherheit, die sich für die meisten eher unangenehm anfühlt. Dabei hat dies nichts mit überhöhter Sensibilität oder Ähnlichem zu tun, sondern ruht tief, nämlich evolutionsbiologisch, in uns. Eine fehlende Orientierung, ein Verloren-sein, kann nämlich zu einer potentiell existenzbedrohlichen Situation führen. Etwas, das wir eben gern vermeiden wollen.

Legendär hierfür ist die Situation des ‚Whiteout‘. Sie tritt am ehesten in den Bergen bei schneebedecktem Boden und dazu gedämpftem Sonnenlicht auf, etwa durch Bewölkung, Nebel oder Schneefall. Im Ergebnis entsteht ein konturenloser Weißraum um einen herum, selbst der Horizont verschwindet hierbei – nur noch ein endlos leerer Raum. Psychisch wird es häufig mit Gefühlen der Beklemmung und Angst beschrieben. Biologisch kann dies sogar zu Desorientierung und Störungen des Gleichgewichts führen.

Schauen wir auf unsere moderne Lebenswelt, eröffnen sich schnell erhebliche Parallelen. Unsere Welt ist von verschiedenen Entwicklungen geprägt, die bestes Potential für Desorientierungen haben. Eine immer steigende Komplexität der Welt, eine stetig steigende Dynamik und dazu eine wachsende Mehrdeutigkeit bezüglich dessen, was um uns herum passiert. All dies reduziert allein die Orientierungsmöglichkeiten. Psychologisch ist die Folge klar: Eine Zunahme mindestens an Verunsicherung, gern jedoch an Ängsten verschiedenster Art.

In Bezug auf Europa müssen wir Gleiches feststellen: Die Vielfalt unsere Kontinents ist an sich erst einmal eine wunderbare Eigenschaft. Allerdings führt sie in einer globalisierten Welt ebenso zu einer fehlenden Klarheit: Wer oder was ist dieses Europa ‚als eins‘? Wofür steht Europa in dieser Welt – auch und gerade in Abgrenzung zu den anderen Regionen der Welt? Oder wie unsere Lehrer früher an der Schule es mit einem lateinischen Wort formuliert hätten: Wie definieren wir Europa? Solange wir hier keine Idee entwickelt haben, sind wir ein Stück verloren. Und können so auch unsere Zukunft (als Richtung) nicht aktiv gestalten.

Nun ist dies nicht das erste Mal, dass sich eine soziale Gemeinschaft in einer solchen Situation befindet, sich definieren zu müssen. Vermutlich gibt es diese Fragestellung nahezu so lange, wie es Menschen gibt. Und wenn dem so ist, dann sollte es doch irgendwo auf dieser Welt schon einmal Lösungen gegeben haben, wie man diese Herausforderung der fehlenden Orientierung in einem sozialen Umfeld löst.

Eine althergebrachte Lösung

Eine Lösung, die mir in den Sinn kommt, ist aus dem alten Rom überliefert: Auf den Märkten wurde Terracotta-Geschirr angeboten. Nach und nach seien neue Anbieter dazugekommen, die billigere, dafür jedoch minderwertigere Produkte verkauften. Das führte bei den etablierten Anbietern zu der Frage, was sie tun könnten, um dies direkt bei den Waren sichtbar zu machen. Die Antwort: Sie markierten ihre Produkte mit einem Stempel ihrer Unternehmens. Die Stempel dieser Unternehmen etablierten sich nach und nach als Symbol für die höhere Wertigkeit. Das Konzept der ‚Marke’ war geboren: Marke nicht nur als reine Markierung, sondern als Symbol für eine spezifische Eigenschaft, einen besonderen Charakter – in Abgrenzung zu den anderen Anbietern.


Und genau so funktioniert Marke noch heute: Es symbolisiert, was uns ein Produkt (und das Unternehmen dahinter) bietet – und was es eben vom Wettbewerb unterscheidet. Es bietet uns, genau: Orientierung. Nehmen wir als Beispiel die Kosmetikbranche. Wir alle kennen die Marken Nivea, L’Oréal und Dove. Alle drei bieten Kosmetika an. Ja, teilweise Produkte für unterschiedliche Anwendungen. In manchen Bereichen überschneiden sie sich jedoch auch. Warum greifen dann dort manche zu der einen Marke – und anderen zu einer anderen? Ganz einfach: Weil sich die Marken in ihrer Aussage unterscheiden. Schauen wir einmal auf den Schönheitsbegriff, den die drei benannten Marken verwenden (und hierum geht es ja bei Kosmetik). Hier könnte man interpretieren, dass die einen Schönheit als etwas verstehen, was von innen kommt, während die zweiten eher auf den äußerlichen Aspekt zielen, und die dritten wiederum Schönheit als Verbindung zwischen innen und außen sehen. Je nachdem, was einem wichtig ist, von Bedeutung ist, relevant ist, greift man zu Produkten der einen oder der anderen Marke.

Damit schaffen sie nicht nur eine klare Unterscheidung, sondern schaffen mit ihren Marken sogar noch etwas Weiteres: Sie zeigen über diese Interpretation (hier von Schönheit) unterschiedliche Weltsichten, Weltanschauungen – mit jeweils eigenen Werten. Und je stärker man sich mit den Werten und der dahinterliegenden Weltsicht identifiziert, desto größer wird die Loyalität zu der jeweiligen Marke sein.

Zusammengefasst: Marken bieten Orientierung und ermöglichen die Entstehung eines Zugehörigkeitsgefühls auf der Ebene gleicher Werte. Identität und Identifikation als ein Traumpaar quasi.

"Alles was uns imponieren soll, muß Charakter haben."

Johann Wolfgang von Goethe

Europa als Marke

Was liegt nun näher als genau diese Logik einmal auf Europa zu übertragen: Was bieten wir damit, was andere Regionen nicht bieten – was jedoch von Relevanz für die Menschen ist? Was ist unsere Weltsicht, was sind unsere Werte? Wie können wir uns  positiv abgrenzen? Oder mit anderen Worten: Was ist unsere innere Mitte, aus der heraus wir denken und handeln?

Und wie können wir das formulieren, so auf den Punkt bringen, dass sich die Menschen damit identifizieren, stolz darauf sind und es ihnen Orientierung gibt? Idealerweise sowohl Europa als Ganzes als auch in all seinen Teilen: den Ländern, Regionen, aber auch Unternehmen bis hin zu jeder und jedem Einzelnen?

Der zentrale Begriff der USA war immer der der Freiheit. ‚The land of the free‘, ‚Liberty‘ und Freedom’ waren / sind die Schlagwörter hier. Und etwas plakativ: Jeans, Chinos, T-Shirts, Sneaker und Basecaps waren und sind die konkreten Elemente, mit denen man Freiheit in sein eigenes Leben übersetzt, wenn man sich damit identifiziert. Alles etwas lockerer, freier als auf dem alten Kontinent  Europa.

Selbst wir in Europa kennen diese Anziehungswirkung dieses Freiheitsbegriffes – und tun uns bisher nicht gerade leicht, dem etwas anderes entgegenzusetzen, dass eine klare und positiv besetzte Alternative bietet. Dies dürfte auch und gerade an der schon erwähnten unglaublichen Vielfalt liegen, die wir in Europa unser Eigen nennen, und zwar nicht nur national, sondern auch regional (Denn wer würde bestreiten, dass beispielsweise sowohl das Trentino als auch Sizilien beide klar italienisch geprägt sind, sich jedoch gleichzeitig in verschiedener Form kulturell unterscheiden!)

Bei einer so großen Vielfalt (und damit: fehlenden Eindeutigkeit) kann es hilfreich sein, sich mit einem übergeordneten Blick mehr Klarheit zu verschaffen. Und zwar zum einen, indem man von etwas weiter weg, zum Beispiel einem anderen Kontinent aus, auf Europa schaut, um zu sehen, was wir hier Interessantes, Positives haben, was den anderen fehlt. Und zum anderen, indem man sich hier in Europa einmal umschaut, was sich als möglicher gemeinsamer Nenner der Länder und Regionen ergeben könnte.

Tut man dies, so könnte der Begriff der ‚Qualität’ in den Fokus geraten, und zwar in Aufladung mit Werten wie kultiviert, humanistisch und vielfältig. In etwa wie "Europa – wo die Qualität zuhause ist".

Wie komme ich darauf? Nun, Europa besitzt mit San Marino die bei weitem älteste parlamentarische Demokratie der Welt: Sie geht auf das Jahr 302 zurück, Jahrhunderte bevor es auf anderen Kontinenten allein zu demokratischen Entwicklungen kam. Und Demokratie als die größte Qualität für die Menschen in ihrer freien Entwicklung schlechthin! In Europa hat mit der Magna Carta 1215 in Großbritanien die Idee der modernen Logik des Staates begonnen. Kulturepochen wie die Gotik, der Klassizismus, das Bauhaus und viele mehr sind genuin europäische Entwicklungen. Sie bilden die Basis für unsere vielfältige Hochkultur an Architektur, Design, Kunst, Kultur etc. Ein kultur- und friedvoller Umgang miteinander ist in den allermeisten europäischen Ländern Standard. Ebenso das Leben in Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. In Europa sind wir um Konsens und Ausgleich bemüht, weil wir wissen, dass dies langfristig mehr Ruhe und damit Wohlstand hervorbringt.

Dies alles gleichzeitig in einer kulturellen Vielfalt, die ihresgleichen in der Welt sucht. Welche andere Region auf dieser Welt hat dies zu bieten? Ich sage: keine!

Bezüglich dieser Werte scheint der europäische Stern am hellsten – und wir werden hierfür in aller Welt beneidet. Warum nehmen wir das also nicht einmal für uns aktiv an und stärken diese Stärke? Mit absoluter Sicherheit bieten wir damit eine höchste Attraktivität für alle Menschen, die all das in ihrer aktuellen Lebensumgebung nicht haben! Und angesichts der Tatsache, dass sich die Entwicklung zu Autokratien aktuell weltweit beschleunigt, besitzen wir mit unserer Marke 'Europa' einen zunehmenden Wert!

Natürlich handelt es sich bei dem Vorgenannten zunächst um eine allererste Skizze, einen ersten kreativen Gedanken. Dieser ist weder vollständig noch in seiner Form auf alles in Europa anwendbar. Aber darum geht es an dieser Stelle auch nicht. Es geht nicht um ein Klein-klein oder Einhundertprozentiges – sondern die große Linie!

Es ist ein erster aktiver Vorschlag, miteinander darüber in einen konstruktiven (im europäischen Sinne: kultivierten) Dialog zu kommen, wofür Europa stehen könnte. Dabei, um handhabbar zu sein, in ganz konkreter Form von Marke – mit einem klaren Kern und zentralen Werten. Dies, um eine Idee zu bekommen, wie Europa gefasst werden könnte, wenn wir es als Marke formulieren. Ganz klar und einprägsam, so, dass sie, wenn man wollte, überall kommuniziert und auch gemerkt werden kann. Als Marke, die unsere Identität formuliert, die uns Leitstern und Handlungsmaxime ist – und uns eine positive und vor allem gemeinsame Identifikation ermöglicht, zu verstehen, wer wir sind und wofür wir stehen. Um uns selbst bewusst zu werden, wer wir sind, um hieraus ein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Damit wir auf dieser Basis gemeinsam diesen Kontinent als unseren Lebensraum weiterentwickeln können. Auf gehts, Europa!